
„Überwältigende Eindrücke, Erleichterung und Tränen“
Rund 50.000 DDR-Bürger flohen im Sommer 1989 über Ungarn in die BRD. Unter ihnen der damals 7-jährige Journalist und Blogger Airen und seine Eltern. Was die kleine Familie auf ihrer Flucht damals erlebte, hielten die Eltern von Airen in einem Fluchtalbum eindrucksvoll fest. Bis zum Tag des Mauerfalls, am 09. November, folgen insgesamt vier Teile der Fluchtgeschichte.
Teil 1:
Tag 1:
21.08.1989 | 11.00 Uhr | Fahrt von Mittweida nach Hainichen |
18.45 Uhr | Abfahrt von Heinichen | |
20.00 Uhr | Grenze DDR-ČSSR | |
03.00 Uhr | Grenze ČSSR-UVR | |
03.30 Uhr | Gescheiterter Grenzübertritt | |
05.00 Uhr | Aufenthalt in einer Kaserne: Der Offizier ist sehr nett, unser Sohn hat einen Tee bekommen und er teilt uns mit, dass er grenzinterne Informationen hat: Die Grenze soll am 01.09.1989 geöffnet werden und wir sollen uns einen Pass beim Konsulat der BRD holen. Wir sind sehr optimistisch | |
08.00 Uhr | Ankunft in Budapest: Wir suchen ein Zimmer, was mit 650 Forint allerdings nicht bezahlbar ist. Wir beschließen die Botschaft aufzusuchen. Diese ist leider geschlossen, wir bekommen aber einen Hinweis auf ein Lager an der Zugligetkirche | |
12.30 Uhr | Ankunft im Lager: Überwältigende Eindrücke, Erleichterung und Tränen überkommen uns. Ca. 400-500 Personen sind in den Zelten untergebracht. Wir führen Gespräch mit einem Botschaftsangestellten, der die Lage sehr sachlich dargestellt. Wir erhalten einen Passantrag und Hinweise auf Verhaltensregeln. Man soll sich nur in Gruppen aufhalten und auf Kinder aufpassen. | |
17.00 Uhr | Lager an der Kirche: Lager sind überfüllt. In den Budapester Bergen wird ein zweites Lager (Csillebérc ) eröffnet. Wir gehören zu den ersten 40 Flüchtlingen und werden in Bungalows untergebracht. Unterkunft und Verpflegung ist kostenlos. Im Bungalow stehen 10 Betten und Hilfssendungen der Malteser bereit, darunter Zelte und Betten. |
Tag 2:
23.8.1989 | Stadtbummel: Um uns abzulenken, machen wir einen Stadtbummel und lassen Passbilder machen. Am Nachmittag wurden 4 Zelte mit 10 Betten aufgebaut – es sind ca. 100 Personen dazugekommen |
Tag 3:
24.08.1989 | Aufbau und Überfall: Wir haben unseren Passantrag abgegeben. Weitere 8 Zelte wurden aufgebaut und Flüchtlinge helfen beim Aufbau der Zelte und Betten – andere sitzen da und trinken Sekt. Eine junge Frau wurde nachts auf der Toilette überfallen. Wir vermuten, dass die Stasi eine Entführung versuchte. Flüchtlinge organisieren daraufhin eine Nachtwache. |
Tag 4:
25.08.1989 | Aus Betten werden Liegen: Besuch eines Thermalbades auf der Magareteninsel. Es wurden 4 weitere Zelte aufgebaut – alle weichen von Betten auf Matrazen und Liegen aus. | |
21.30 Uhr | Plötzliche Schreie: Schriller Schrei eines Kindes aus dem Gebüsch, 12 Männer stürzen mit Taschenlampen in’s Gebüsch. Der Schrei wiederholt sich und am Zaun sitzt ein Paar und sagt: „Was regen sie sich auf, die Kinder spielen nur“ – obwohl keine Kinder zu sehen waren. Wir haben wieder die Vermutung, dass die Stasi Angst und Unruhe unter die Lagerbewohner bringen will. |

Tag 5:
26.08.1989 | Mehr und mehr Zelte: Es fängt an zu regnen. Helfer des Roten Kreuzes kommen und überall wird Hilfe angeboten: Creme, Windeln, Waschpulver. Wir fahren mit der Pionier-Eisenbahn und werden beobachtet. Am Abend stehen 15 große Zelte und es werden immer mehr kleine Zelte in die Lücken gebaut. Am Nachmittag scheint die Sonne. |
Tag 6:
27.08.1989 | Regen und matschiger Boden: Es regnet wieder stark und die Kinder sinken in die Betten ein, da die Erde total nass ist. |
Tag 7:
28.08.1989 | Unterschrift mit Folgen: Weiter kalt und regnerisch. Haben uns Regenmäntel gekauft und holen unsere Pässe ab. Wir unterschreiben, dass uns bei einer Rückkehr in die DDR zwei Jahre Gefängnis erwarten. Inzwischen stehen 22 große Zelte. |
Tag 8:
29.08.1989 | Geduld und abwarten: Der Botschafter stattet uns einen Besuch in unserem Lager ab. Er strahlt großen Optimismus aus und rät uns abzuwarten und keine weiteren Fluchtversuche mehr zu unternehmen. Anwesende werden als Bundesbürger betrachtet. Am Morgen wurden 1.200 Personen im Lager gezählt. |

Tag 9:
30.08.1989 | Ein Lichtblick: Im Radio werden Durchsagen gemacht, dass in Bayern ca. 15.000 Personen aufgenommen werden können. |
Tag 10:
31.08.1989 | Es geht voran: Es werden Gerüchte laut, dass die Weiterreise am 01.09.89 erfolgen kann. Das Wetter wird etwas besser. |
Tag 11:
01.09.1989 | Gerüchteküche um einen Abreisetermin: Das Radio verbreitet die Information, dass die ungarische Regierung offiziell erklärt hätte, dass alle DDR-Flüchtlinge in die Bundesrepublik weiterreisen dürfen. Als möglicher Termin wird der Wochenanfang genannt. Ein anderes Gerücht nennt den 06.09.89 als Abreisetermin. Uwe und Claudia wenden sich immer mehr einer Clique zu, die allabendlich Saufgelage abzieht und die Zimmer, in denen die Kinder schlafen, verqualmen. Das Wetter ist sonnig und warm, dadurch herrscht eine bessere Stimmung. Am Nachmittag haben wir uns auf der Wiese gesonnt und haben eine Möglichkeit zum warmen Duschen im „Kollegium“ herausgefunden . |
Tag 12:
03.09.1989 | Endlich abreisen? Im Radio wird immer wieder davon gesprochen, dass die Evakuierung des Lagers am Montag beginnen könnte. Wir sind weiter optimistisch. Abends kommt noch eine Familie mit 3 Kindern. Wir haben nun nur noch 2 Betten im Bungalow und in 10 Betten sind 18 Personen untergebracht. Die „Saufclique“ tagt unter hemmungslosem Gejohle bis 03.00 Uhr nachts weiter. Wir sind in der Annahme, dass die Abreise am Montag beginnt. |
Ob der kleinen Familie die Abreise gelingt und wie es mit der Flucht von Airen und seinen Eltern weitergeht, erfahrt ihr im nächsten Blog-Beitrag.